Am Anfang ein Traum

Unsanft beendet Straßenlärm den Schlaf. Eine Mischung aus hupenden Autos, vorbeiknatternden Rikschas, aufheulenden Motorrädern und lautem Stimmengewirr. Ein Heidenlärm schwebt über der Stadt. Es ist Sonntag, halb elf und an Ruhe nicht mehr zu denken. Suzanna steckt bereits voller Tatendrang, steht schon ewig am Fenster und beobachtet die Menschen auf der Straße. Mit „Ich schau mich mal um“ zieht sie die Tür ins Schloss.

Schwer ruht der Kopf auf dem Kissen, die Augenlider fallen immer wieder zu. In mir kreisen die Gedanken. So wie ich früher den Schichtdienst gehasst habe, genauso verdamme ich nun den Jetlag. Wieder und wieder spielt das Kopfkino einen Film, den ich bisher mit Indien in Verbindung gebracht habe. Bilder von traditionell gekleideten Bauern tauchen auf, die mit ihren Ochsenkarren auf dem beschwerlich heißen Weg zum Markt sind. Von leuchtenden Reisfeldern, in denen die Menschen knietief im Wasser stehen. Oder von indischen Frauen, die in überdimensionalen Körben ihre Waren auf dem Kopf tragen. Aber auch Fragmente von Armut, kleinen Kindern mit hungrigem Blick und von vollbesetzten Zügen, bei denen die Menschen auf dem Dach sitzen. Und dann sehe ich vor dem geistigen Auge wieder Bildnisse von Gottheiten, reich verzierten Tempeln und jungen Frauen in prachtvollen Kleidern, die Blumen im Haar tragen. Bleiben es nur Traumbilder oder werde ich hier einen Rahmen für all diese Gedanken finden.

Mit einer Flut erster Erfahrungen kommt Suzanna wieder zurück. Mehrfach wurde sie von indischen Männern angesprochen. „Where do you come from?“, fragten sie neugierig, um sie dann in ihre kleinen bunten Läden zu locken und verschiedene Waren zu präsentieren. „Ich hab mir sogar angeschaut, wie Räucherstäbchen gemacht werden“ erzählt sie begeistert. „In einem ganz kleinen Geschäft, nicht größer als das Zimmer hier. Der Duft war himmlisch!“ Sie strahlt über das ganze Gesicht. „Wie weit bist du? Wir treffen uns gleich mit Sarah unten im Hotel. Die zeigt uns dann ein bisschen von der Stadt.“

In der Hotellobby wartet eine dunkelhaarige Engländerin, die in ihrem langen Kleid schon sehr indisch aussieht. Sarah ist 37 Jahre, wirkt auf den ersten Blick jedoch jünger, lebt neun Monate im Jahr hier in Mysore und arbeitet die anderen drei dann zu Hause in England. Sie blieb nach einem Indienurlaub hier und wollte Yoga lernen. In diesem Gedanken schwingt der ungewöhnliche Reiz, alles hinter sich zu lassen. Nach fünf Jahren ist sie immer noch von diesem Land verzaubert, studiert Musik und gibt bisweilen selbst Geigenunterricht. Sie begegnete Suzanna vor Jahren bei einem Urlaub in Griechenland und ist die ersten Tage nun unser persönlicher Guide. Einen besseren Einstieg in eine noch unbekannte Welt kann es nicht geben.