Zug um Zug

Die Eisenbahn ist, vom Ochsenkarren einmal abgesehen, das billigste Verkehrsmittel und für jeden erschwinglich. Mit halbstündiger Verspätung verlassen wir Kanniyakumari, sitzen uns gegenüber, jeder hat eine ganze Sitzbank für sich. Für einen Traveller ist es dennoch nicht zu empfehlen, die Fahrt in der nicht reservierbaren Holzklasse anzutreten. Die Holzbank ist für vier Reisende ausgelegt, doch mindestens fünf Leute quetschen sich ab der zweiten Station „Nagercoil“ nebeneinander. Quälende Enge, selbst im Gang stehen sich die Leute auf den Füßen. Wenn irgendwo noch ein Stückchen Holzbank zu sehen ist, wedelt ein Inder mit der Hand und bedeutet, etwas Platz zu machen. Ganz gleich, ob er da noch reinpasst oder nicht. Vom Gepäcknetz baumeln mehrere Beinpaare herab. Ein beleibter Inder hat es sich gar liegend darin bequem gemacht.

Finstere Blicke von schmuddeligen Typen treffen mich, mit denen ich nicht gemeinsam im Nachtzug fahren wollte. Den Rucksack hab ich noch fester als sonst in der Hand. Der Urlaub kann so schnell vorbei sein, bevor es richtig losgeht. Suzanna erzählt die Geschichte von einem Bekannten, der wie Carmen die ersten Tage in Bombay von der einen in die nächste missliche Situation schlitterte und dem alles geklaut wurde. Er fuhr mit dem Zug, stand nur eine Minute auf der anderen Gangseite, um dem Sitznachbarn etwas Platz zu machen und wurde von einem fremden Mann in ein Gespräch verwickelt – und schwupp, weg war der Rucksack. Damit auch Reisepass, Bargeld und Visa-Karte. Ein Scheißgefühl, wenn plötzlich sogar das Rückflugticket fehlt. Von dem Mann auch keine Spur mehr. Was denkt man in dieser Situation, wo einen kaum jemand versteht? Wohl gar nichts. Man blickt wie gelähmt in fremde Gesichter und fühlt sich wie im falschen Film. Immerhin suchten die Mitreisenden nach dem Gepäck-stück auch in benachbarten Abteilen, bis einer sagte, dass diese öfters in den Toiletten zu finden seien. Aber wo?

Ein glücklicher Moment ist so relativ. Würde einem beim Pinkeln versehentlich der Reisepass ins Becken fallen, ist es das größte Pech schlechthin, was einem widerfährt. Entdeckt man nach endloser Suche in schmutzigen Klos, begleitet von dem Gedanken, die Urlaubsreise nun abzubrechen, auf einmal den durchwühlten Rucksack in der stinkigen Kloake eines Eisenbahnwaggons, wird das Glück neu definiert. Bis auf das Bargeld waren Pass und Visa-Karte vorhanden, sogar das Flugticket klebte noch am verdreckten Boden.

Suzanna sitzt gedrängt in der Ecke, der müde Kopf ihres Sitznachbarn findet einen gemütlichen Platz auf ihrer Schulter. Mir ergeht es nicht besser, sobald der Inder neben mir fast auf meinem Schoß hockt. Für deutsche Verhältnisse bin ich nicht gerade hoch gewachsen, ich möchte sagen, ich bin vielmehr untergroß, liege damit jedoch etwas über der Durchschnittsgröße eines indischen Mannes. Der ist unter einssiebzig und hat oft eine schmale Statur. Spätestens nachher beim Aussteigen soll sich diese „Größe“ noch als sehr nützlich erweisen.

Die Landschaft rauscht wie ein Film vorbei. Palmenhaine und Reisfelder, dazwischen wechseln sich einzelne Häuser mit kleinen Ortschaften ab, alle fünfzehn Minuten ein anderer Bahnhof. Und jedesmal steigen weitaus mehr Menschen zu als aus. Nach anderthalb Stunden erreichen wir Trivandrum, stehen bereits an der Tür. Über Gleise und Weichen schweift mein Blick, versucht die Lichtsignale zu deuten und den indischen Eisenbahnbetrieb zu verstehen. Energisch fordert uns ein Inder auf, wir sollten wieder zurück gehen. Wir verstehen zwar nicht, was er damit meint, treten dennoch einige Schritte nach hinten, obwohl wir nun weniger Platz als vorher haben. Dass der Rat wirklich gutgemeint war, zeigt sich bei der Einfahrt. Noch bevor der Zug zum Halten kommt, springen Männer in die offene Tür. Rücksichtlos wird jeder umgeschmissen, der da gerade steht. Nur darauf fixiert, analog den Busfahrten einen Platz zu erobern. Doch bis zur Sitzbank lasse ich mich nicht zurückdrängen. Es war nicht nur ein Bodycheck, den ich brauchte, um aus dem Zug herauszukommen.

Der Bahnsteig ist schwarz von Leuten, unvorstellbare Menschenmassen erwarten den Zug. Die meisten quetschen sich in die offenen Türen, manche bleiben auch einfach nur im Weg stehen, um ihren Verwandten oder Bekannten eine gute Reise zu wünschen. Da hätten wir selbst in der zweiten Klasse nicht viel mehr Platz gehabt.