Die Erleuchtung


Auf den Straßen ist noch mehr los als gestern. Es muss das organisierte Chaos herrschen, so wie der Verkehr funktioniert. Wie ein riesiger, unüberschaubarer Ameisenhaufen, auf dem es scheinbar alles, nur keine Ordnung gibt. Indien ist ständig im Fluss!
Ein längerer Spaziergang quer durch die Stadt. Wir sind kaum unterwegs, als Rinder unseren Weg kreuzen, zum Greifen nah. Ruhig harren die ihrer Dinge, trotten gemächlich auf den Gassen oder queren diese breite, vier-spurige Hauptstraße. Unbeeindruckt vom vorbeirasenden Verkehr laufen sie einfach los. Mitten rein ins Getümmel, als wollten sie allen ihre Göttlichkeit demonstrieren, weil jeder Rikscha- oder Motorradfahrer für die heiligen Kühe bremst. Wie Sarah erwähnt sei es für einen Hindu schlimmer, eine Kuh anzufahren als einen Menschen. Die lassen sogar ein Rind eher verbluten, anstatt dessem Leiden ein Ende zu setzen, weil jeder die Strafe Gottes fürchtet. Es ist unbegreiflich, aber Indiens Rinder sind nicht aus der Ruhe zu bringen. Weder durch Motorradgeknatter noch von schwarzen Abgaswolken. Sie sind eins mit diesem Land. Und Indien braucht die Kühe. Nicht unbedingt als Fotomotiv auf Reiseführern oder zur Belustigung der Touristen. Auch nicht als Heiligtum. Nein, in den Städten dienen die Rindviecher als Müllabfuhr, sozusagen als lebende, göttliche Müllverwertungsanlage.

Wem gehört diese Kuh eigentlich? Ich glaube niemandem. Denn der, dem sie gehört, ist entweder gestorben oder hat kein Geld, sie zu füttern. Das kann man gut an den städtischen Rindern sehen. Die sind abgemagert, haben nur Haut und Knochen und geben keine Milch mehr. In den Abfallbergen finden sie noch Essbares und vertilgen auf diese Weise in ihrem Leben mehr als nur eine Plastiktüte. Würde man alle Rinder aus der Stadt entfernen, das Land würde wohl noch schneller im Dreck ersticken.

Weiter geht es vorbei an zahlreichen bunten Ständen, deren Händler teilweise auf dem Boden sitzen. „Come from?“ rufen sie unablässig. „How long stay you here?“ Es dauert seine Zeit, bis man mit Scheuklappen daran vorbeigeht und den Verkäufern nicht in die Augen schaut. Sie einfach ignoriert, allenfalls die Waren kurz betrachtet.
Wir betreten einen klimatisierten, weitaus helleren und modern gestalteten Schalterraum. Überaus freundlich werden wir willkommen geheißen, sitzen gleich einem Bank-Angestellten gegenüber. Bevor er das hochwertige Papier herausgibt, müssen wir uns jedoch durch die gesamte indische Bürokratie hangeln.
Kopien von Reisepass und Visum, ein ellenlanger Fragebogen nach Herkunft und in welchem Hotel wir wohnen und unzählige Stempel. Fehlt nur noch die neugierige Frage, wozu wir das Geld benötigen. Schließlich erhalten wir über 50.000 Rupien. Für manche sicherlich ein Ver-mögen. Wie lange man mit diesem Geld wohl in Indien haushalten könnte? Wie Sarah erzählte, zahlt sie für ein einfaches Quartier rund 1000 Rupien im Monat.

Kaum stehen wir auf der Straße, beginnt Suzanna laut zu träumen. „Stell Dir doch mal vor: nur tausend Rupien! Dazu das preiswerte Essen von gestern, ab und an süße Mango oder Ananas, frisch gepresster Saft und ein paar Flaschen Mineralwasser am Tag.“ Bei dem Gedanken wird sie ganz hibbelig. „Man könnte von einem Ort zum anderen reisen und hätte hier eine Unterkunft mit allem was man braucht.“
„Du spinnst ja!“ will ich diese Phantasien nicht teilen. „Du bist noch keine 48 Stunden in diesem Land und träumst bereits vom Auswandern.“
In ihrem Kopf rasen ihre Gedanken wie auf einer Datenautobahn. „Gegenüber Deutschland wäre das richtig billig.“ Ein zweites Mal rechnet sie die Kosten durch. „Wenn du jeden Tag mit hundert bis zweihundert Rupien Verpflegung auskommst, mehr waren das gestern ja nicht, reichen sechs-, sagen wir achttausend Rupien im Monat.“
Selten hab ich sie so euphorisch gesehen. Für einen Moment fiebert sie wie auf einem Trip.
„Was hast du denn vorhin getrunken? Oder schluckst du anstatt der Vitamin-Tabletten neuerdings so kleine bunte Pillen?“
Hämisch wirft sie den Blick zurück. „Schon einmal daran gedacht, dass du nur zwischen Gegenwart und Vergangenheit pendelst, wenn du nie einen Schritt nach vorne gehst?!“
Sie weiß gewiss um die Krankenversorgung, und dass die Lebenshaltungskosten nicht mit zwei Mahlzeiten abgedeckt sind.
„Wer sich durch nichts inspirieren lässt, wird auch nie andere Wege gehen“ beendet sie ihren Tagtraum.
Mag ja alles stimmen, aber muss sie den Pfad der Erleuchtung gleich am zweiten Indientag entdecken?